Einführung - Token-Economy-Book/2ndEdition-German GitHub Wiki
Kryptografische Tokens - die von Blockchain-Netzwerken und anderen Distributed Ledger Systemen kollektiv verwaltet werden - erscheinen ebenso revolutionär wie die Entstehung des WWW als Anwendung des Internets im Jahr 1991. Damals hatte Tim Berners-Lee einen neuen Standard eingeführt, der das Erstellen visuell ansprechender Hypertext basierten Webseiten mit geringem Programmieraufwand ermöglichte. Die entstandenen Webseiten ermöglichten erstmals jedem Laien das einfache Navigieren im Internet durch das Anklicken von Links. Allerdings war damals noch nicht abzusehen, wie sinnvoll und vielfältig sich diese Webseiten einsetzen lassen. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis sich das Internet von einfachen, statischen Webseiten zum sogenannten Web2 entwickelte.
Im Vergleich zu den Anfängen des WWW befinden wir uns in einem sehr ähnlichen Stadium, wenn es darum geht, zu verstehen, wie wir kryptografische Tokens sinnvoll gestalten und einsetzen können. Auch wenn bereits mehr als 7.500 Tokens[^1] auf öffentlichen Krypto-Handelsplattformen gelistet sind, fehlt vielen dieser Tokens das richtige Governance-Design oder eine geeignete Businesslogik. Wir stehen erst ganz am Anfang dieser Token-Revolution. Wenngleich es uns immer noch an Best Practices mangelt, so bin ich fest davon überzeugt, dass Tokens die Hauptanwendung des Web3 darstellen, die unsere Wirtschaft grundlegend verändern werden.
Auch wenn sich die Technologie noch in einem frühen Stadium befindet und vielen zu abstrakt erscheint, so entwickelt sie sich dennoch schnell weiter. Es ist selbst für Insider kaum möglich, am Ball zu bleiben. Immer mehr Unternehmen, Investitionskapital und Forschungseinrichtungen beschäftigen sich mit dem Ansatz und investieren in diese neue Technologie. Allerdings mangelt es derzeit noch an bewährten Geschäftsmodellen und Governance-Mechanismen.
Des Weiteren muss sich diese neue Branche mit einer Vielzahl von technologischen und rechtlichen Herausforderungen auseinandersetzen. Vielerorts ist das Wissen über die Mechanismen, das Potenzial und die Gefahren des Web3 noch unzureichend. Darüber hinaus ist es für viele schwierig, richtig einschätzen zu können, wann die angekündigten Veränderungen, die mit dem Web3 und seinen Anwendungen einhergehen, realistisch zu erwarten sind. Schlagwörter wie Smart Contracts, Kryptowährungen, Krypto-Assets und Tokens sind zwar allgegenwärtig, aber es gibt Informationsbedarf, was die zugrunde liegenden Mechanismen dieser Anwendungen sowie den Stand der Technik betrifft.
In den Medien wird Blockchain oftmals getrennt von Bitcoin beschrieben, was eine künstliche Trennung erzeugt, die irreführend sein kann. Denn das Bitcoin-Netzwerk besteht aus mehreren Komponenten: der Infrastruktur – dem Blockchain-Netzwerk, das im Zusammenspiel mit dem Blockchain-Protokoll seine Netzwerkteilnehmer steuert – und den Bitcoin-Tokens, mit denen die Netzwerkteilnehmer für ihre Netzwerkleistungen belohnt werden. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Des Weiteren beziehen sich die Medien immer wieder auf Kryptowährungen, auch wenn sie von Tokens im Allgemeinen sprechen, die oftmals gar nichts mit Währungen zu tun haben. Das zugrunde liegende Potenzial der Blockchain-Technologie wird hierdurch auf ein Spekulationsobjekt reduziert, anstatt sich auf die Tatsache zu konzentrieren, dass es sich in erster Linie um eine vielversprechende Governance-Technologie handelt, die eine bessere Koordination von sozioökonomischen Aktivitäten über das Internet erlaubt und die viele Probleme der derzeitigen Internet-Struktur und seinen Anwendungen lösen könnte. Die mangelnde Transparenz darüber, was mit unseren privaten Daten passiert, oder was entlang der Lieferkette von Waren, Dienstleistungen und im Zahlungsverkehr geschieht, ist darauf zurückzuführen, dass das derzeitige Web auf unterster Ebene keine eingebauten Sicherheits- und Zahlungsmechanismen hat – was wiederum Webplattformen wie Amazon, Airbnb oder Uber ihre Marktmacht gibt.
Es ist überaus wichtig, zu verstehen, dass die öffentlichen Blockchain-Netzwerke nur aufgrund des Token-Anreizsystems funktionsfähig und vertrauenswürdig sind. Das Blockchain-Protokoll belohnt Netzwerkteilnehmer für ihren Beitrag zur Systemsicherheit und das Zurverfügungstellen von Rechenleistung mit einem Netzwerk-Token. Andererseits werden diese Tokens auch gebraucht, um die Gebühren für Netzwerktransaktionen zu bezahlen. Das Bitcoin-Protokoll und daraus abgeleitete Technologien sind daher nicht als klassische Währungen zu verstehen, sie ermöglichen vielmehr eine öffentliche Infrastruktur, die gemeinschaftlich verwaltet wird und P2P-Zahlungen ermöglicht. Das Blockchain-Protokoll bietet die Verwaltungsregeln für die jeweilige Community, die als verteilter Internetstamm gesehen werden kann. Das Bitcoin-Token (BTC) kann daher als die Währung eines verteilten Internetstamms, des Bitcoin-Netzwerks, bezeichnet werden. Dementsprechend ist Ether (ETH) die Währung des verteilten Internetstamms Ethereum und das Sia-Token (SIA) die Währung des Sia-Netzwerks.
Während die ersten Tokens zunächst nur im Rahmen von Anreizsystemen der zugrunde liegenden Netzwerke erstellt wurden, hat sich das Phänomen von Tokens mit dem Ethereum-Netzwerk auf die Anwendungsebene verschoben. Das Ethereum-Protokoll war eine wesentliche Weiterentwicklung des Bitcoin-Protokolls da es erlaubte, einfach und flexibel Tokens auf Anwendungsebene zu erstellen, die jegliche Art von Eigentumsrechten, Zugangsrechten, Managementrechten, Wahlrechten oder Zertifikaten darstellen können. Tokens konnten mit wenig Programmieraufwand erstellt werden, und zwar mit einem einfachen Smart Contract und ohne die Notwendigkeit, eine eigene Blockchain-Infrastruktur aufzubauen. Die Herausforderung aber besteht darin, die geeigneten Business-Logiken oder Governance-Regeln zu entwickeln. Es gibt noch wenige Best Practices.
Wenn man über Blockchain-Netzwerke und ähnlichen Distributed Ledger Systemen spricht, ist überwiegend von den positiven Seiten und dem Potenzial dieser neuen Technologie die Rede. Jede Technologie ist aber lediglich ein Werkzeug und zunächst neutral. Wie wir dieses Werkzeug einsetzen, ist fast nie eine technologische sondern immer eine humanistische Frage. Die Frage, wie wir die Business-Logiken und Governance Regel dieser neuen Protokolle und deren Anwendungen gestalten, ist also viel mehr eine gesellschaftspolitische und wirtschaftliche als eine rein technologische Frage.
Dieses Buch soll daher zunächst einen Überblick über die Grundlagen der Technologien und den aktuellen Stand geben, dann aber auch die gesellschaftspolitischen Implikationen und potenziellen Anwendungsfälle verdeutlichen. Ziel sollte es sein, gut informiert bereits jetzt - also in einem frühen Stadium - die positiven, aber auch die möglichen problematischen Aspekte der Token-Ökonomie zu erkennen und zu diskutieren.
Fussnoten
[^1]: Für eine aktuelle Zahl siehe: https://coinmarketcap.com